Sustainability expert Dr. Colin Bien on climate neutrality
Wird die Welt wieder so sein, wie sie einmal war? Und... wollen wir das überhaupt? Denn während wir zuhause sitzen und unseren Beitrag zu #flattenthecurve leisten, geschehen viele kleinere und größere Veränderungen auf unser Klima. Ein unerwartet positiver Impact der unsere Umwelt während dieser Krisenzeit im wahrsten Sinne des Wortes „aufatmen“ lässt. Welche Auswirkungen sich schon nach wenigen Wochen abzeichnen, wie die Welt nach Corona aussehen könnte und was wir dafür tun können, damit dieser positive Impact auch zukünftig Bestand hat – wir haben Nachhaltigkeitsexperten Dr. Colin Bien auf ein Interview getroffen.
Wird die Welt nach der aktuellen Situation Ihrer Meinung nach jemals wieder sein wie vorher? Und sollten wir das überhaupt wollen?
Nein, das denke ich nicht. Entscheidend ist dabei die Frage, wie stark die Veränderungen sein werden und in welche Richtung sie sich entwickeln. In der aktuellen Krise liegen Chancen und Risiken, es wird noch eine Weile dauern, bis wir sehen, was sich durchsetzt. Doch eines steht fest: es steht viel auf dem Spiel. Zunächst möchte ich jedoch davor warnen, aktuell die Chancen der Krise zu sehr zu betonen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, „wir“ würden die Krise für Umweltschutz und Co. instrumentalisieren. Es sterben Menschen, finanzielle Existenzen sind bedroht und die Weltwirtschaft pulverisiert sich gerade. Kurzfristig müssen wir diese Effekte abfedern doch dürfen dabei nicht die langfristigen Ziele und Risiken vergessen. Mehr denn je ist ein integratives Denken gefragt, das beide Perspektiven verbindet.
Zurück zu den Risiken: diese reichen meines Erachtens von einer Stärkung protektionistischer oder gar nationalistischer Tendenzen, über eine Lockerung von Umweltschutzauflagen (um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen) und einem Relevanzverlust von Nachhaltigkeit, bis hin zum sozialen Verfall, bspw. durch Knappheit auf Arbeits- oder Ressourcenmärkten. Gerade in Deutschland wissen wir über die fatalen Entwicklungen, die eine hohe Arbeitslosigkeit freisetzen kann, bescheid. Wir müssen diese Schritte um jeden Preis verhindern.
Demgegenüber stehen kraftvolle Chancen für die dringend nötige Transformation zur Nachhaltigkeit. Viele spüren gerade selbst wie tief die Krise in die Frage hineingreift, wie Wirtschaft und Gesellschaft organisiert werden sollten. Wir merken zum Beispiel, im Homoffice sitzend, dass sich mehr Dinge als geahnt digital regeln lassen. Gleichzeitig beobachtet man mit Erstaunen, wie handlungsfähig die Politik plötzlich wird (wenn Systemversagen droht) und wie viel wir als Gesellschaft zu ändern vermögen. Uns muss „nur“ ein gemeinsames Ziel vorschweben. Wir sollten diese persönlichen Erfahrungen und Lerneffekte unbedingt in die Zeit nach der Krise überführen und für den Klimawandel fruchtbar machen. Zudem ergibt sich eine große Chance, wenn wir die Hilfen zum Anfahren der Wirtschaft an ökologische Auflagen knüpfen und zukunftsfähige Industrien (regionaler Tourismus, erneuerbare Energien, regionale Landwirtschaft, hiesige (Medikamenten)Produktion, Elektromobilität) fördern. Wir müssen nicht jede Billig-Airline oder jeden Dieselproduzenten retten. Dahinter steht auch ein ökonomisches Argument: wer jetzt zukunftsunfähige Industrien rettet, um den Status Quo von vor der Krise wieder herzustellen, muss viel Geld in die Hand nehmen. Viele Industrien müssen allerdings umgebaut werden, um zukunftsfähig zu werden, was noch mehr Geld kostet. Da macht es doch Sinn, gleich im ersten Schritt eine nachhaltige Transformation anzugehen.
Was ich mir wünsche für eine Zeit nach der Krise, lässt sich somit in drei Punkten zusammenfassen: Lerneffekte der neuen Lebens- und Austauschformen in die Bewältigung der Klimakrise überführen, Wirtschaftshilfen an ökosoziale Standards knüpfen und regionale Wertschöpfungsketten stärken. Das sollten wir meines Erachtens wollen und ich bin auch optimistisch, dass es gelingen kann. Tolle Beispiele dafür gab es schon vor der Krise.Wer Lust hat, sich inspirierende Geschichten über die nachhaltige Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft anzuhören, kann dies übrigens gerne in meinem Podcast MASTERS OF CHANGE tun. Wer ganz konkret lernen will, wie man Nachhaltigkeit ins Unternehmen bringt, findet bei nRole praktikables Wissen zu Themen wie Nachhaltigkeitsmanagement, Nachhaltigkeitskommunikation oder nachhaltigen Geschäftsmodellen.
Flugzeuge bleiben am Boden, Autos stehen still und schon liest man nach wenigen Tagen, welchen positiven Einfluss die aktuelle Situation auf unsere Umwelt hat. Welches sind die bisher positivsten Auswirkungen auf unser Klima?
Zynischerweise wirkt die eine Krise (Corona) zumindest kurzfristig positiv auf die andere (Klima). Dadurch erreicht Deutschland überraschend die Klimaziele für 2020 doch, da durch die Einschränkungen des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft die CO2-Emission sinken. Das kann man als positiven Nebeneffekt sehen, ob sich hier allerdings auch langfristig Wirkung entfaltet, hängt unter anderem von den oben beschriebenen und nötigen ökologischen Modernisierungen im Energie-, Landwirtschafts- und Mobilitätssektor ab. Ein kurzfristiges „Durchatmen“ gestattet die Krise der Natur, was eindrucksvoll auf Satellitenbildern von NASA und ESA von China zu sehen ist. Hier zeigt sich, dass die Konzentration von Stickstoffdioxid (NO2) durch die Eindämmungsmaßnahmen Pekings deutlich gesunken sind, was die Luftqualität verbessert.
Unsere Waterless-Stückprodukte sind seit März diesen Jahres CO2-neutral, bis Ende des Jahres möchten wir mit allen Produkten und dem Unternehmen nachziehen. Was würde es bewirken, wenn alle Unternehmen von heute auf morgen auf Klimaneutralität umstellen würden?
Klimaneutralität muss man immer im Kontext betrachten. Ich finde es erstmal gut, wenn Unternehmen sich mit dem Thema Klima beschäftigen und erste Schritte gehen. Aber der Grundsatz bei effektivem Klimamanagement lautet 1.) vermeiden, 2.) reduzieren, 3.) kompensieren. In dieser Reihenfolge. Zunächst sollte geschaut werden, ob CO2-intensive Prozesse oder Wege vermieden werden können. Das geht logischerweise nicht bei allem. Doch vielleicht lassen sich die nicht vermeidbaren Emissionen ja reduzieren, z.B. durch bessere Technologien. Das Kompensieren der nicht zu vermeidenden und nicht zu reduzierenden CO2-Emissionen schafft dann die Klimaneutralität. Hierbei wird die übrige Menge an CO2 durch Klimaschutzprojekte (z.B. Aufforstung) eingespart und dadurch ausgeglichen.
Würden nun alle Unternehmen klimaneutralisiert, könnte es passieren, dass dies ohne vorherige Vermeidung oder Reduzierung erfolgt. Das wäre nicht Sinn der Sache, denn wir wollen ja insgesamt weniger emittieren und nicht einfach durch Unmengen neuer Bäumen CO2-Emissionen ausgleichen (die Fläche auf der Erde würde für so viele Bäume auch gar nicht ausreichen). Somit wäre eine Umstellung auf Klimaneutralität sehr zu begrüßen, wenn zuvor versucht wurde, zu vermeiden und zu reduzieren. Dann sähen wir einen wirklichen Effekt.
Klimaforscher fordern aktuell einen „Klima-Corona-Vertrag“. Was ist darunter zu verstehen und was würde dieser Vertrag Ihrer Meinung nach erwirken?
Der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber hat die Idee des sogenannten „Klima-Corona-Vertrag“ ins Spiel gebracht, wie es auch anderen Wissenschaftler wie Volker Quaschning getan haben. Gemeint ist damit kein wirklicher Vertrag, sondern eine Art „Deal“. Dahinter steht die Idee (die in unterschiedlicher Formulierung auch schon in den sozialen Netzwerken viral gegangen ist), dass die Jungen nun auf die Älteren Acht geben und Solidarität zeigen, da diese durch das Virus stärker gefährdet sind, z.B. durch wenig/keinen Kontakt oder die Übernahme von Einkäufen. Im Gegenzug sollten die Älteren Solidarität in Sachen Klimaschutz zeigen, da es die Jüngeren sind, die durch die Folgen der Klimaerhitzung stärker gefährdet sind. Es wäre schön, wenn wir uns mit einem solchen „Generationenvertrag“ auf gegenseitige Solidarität einigen könnten und diese dann auch stärker leben. Da wir es hier aber nicht mit einem juristischen Instrument zu tun haben, sondern mit einer Art Solidaritätsmetapher, ist die Wirkung abhängig von der tatsächlich gelebten Solidarität und Verantwortungsübernahme. Am Ende aber wäre so etwas für beide Seiten ein Gewinn. Lasst es uns also versuchen!
Welche Verantwortung sehen Sie bei Social Businesses oder nachhaltigen Start-Ups und Kleinunternehmen wie uns?
Zunächst liegt eine große Chance von Social und Green Startups darin zu zeigen, dass es „die“ Wirtschaft so nicht gibt, sondern es verschiedene Formen von Unternehmen gibt, die verschiedene Ziele verfolgen. Nachhaltiges Unternehmertum hilft dabei zu veranschaulichen, dass Unternehmen nicht nur Teil des Problems sind, sondern vor allem Teil der Lösung. Wenige Organisationen strukturieren unsere Leben so sehr wie Unternehmen und dadurch wird doch klar, dass sie weit mehr sind als Gewinnmaximierungsmaschinen. Sie sind Gesellschaftsgestalter.
Durch ihre Art zu wirtschaften können Social Businesses oder nachhaltige Start-Ups neue Formen des Wirtschaftens prägen, auf die andere wiederum aufbauen können. Auch, wenn es häufig noch Nischen sind, die besetzt werden, wer sich einmal mit der Transition Theory auseinandergesetzt hat weiß, dass Transformation in der Regel in Nischen beginnt und sich dann ausweitet. Somit ist diese Avantgarde des Unternehmertums (das die Regel sein sollte!) eine wichtige Triebkraft des Wandels. Sie zeigt, dass es auch anders geht und gerade nach Corona ist das Argument „das geht nicht“ ein sehr schwaches. Wir wissen nun, dass viel geht, wenn wir es wollen. Ihre Verantwortung besteht also unter anderem darin, zu zeigen, dass es sich lohnt drängende Problem abseits ökonomischer Ziele zu lösen. So wird regelmäßig Disruption ausgelöst, die ganze Branchen umgestaltet.
Was kann jede:r Einzelne von uns jetzt tun, um quasi vom Sofa aus unser Klima zu retten?
Einen der schönsten Sätze zu dieser Frage habe ich auf der letzten deep dive club Conference von Ingo Pohlmann gehört. Sein Schlachtruf ist: „Halbe Fahrt voraus“! Halb so viel Fleisch essen, halb so viele Klamotten kaufen, halb so viele Flüge vom Sofa buchen. Und sollte es einen doch mal vor die Tür treiben, doppelt so viel Rad fahren. Was übrig bleibt, kann sich dann an nachhaltigen Kriterien ausrichten. Eine tolle Übersicht für nachhaltigen Konsum bietet z.B. dieses Poster. Damit wäre schon sehr viel geschafft.
Aber das ist nicht alles. Vom Sofa aus kann man z.B. den Stromanbieter prüfen (Ökostrom?) und ggf. wechseln, kann zu einer nachhaltigen Versicherung gehen oder Kund*in bei einer nachhaltigen Bank werden. Mittlerweile gibt es klimaneutralisierte Konten.
Zu guter Letzt lässt sich die Zeit auf dem Sofa nutzen, um zu überlegen, welche Lerneffekte aus der aktuellen Situation dem Klima helfen könnten (Videokonferenzen) und welche auch in der Zukunft häufiger genutzt werden können.
Welche Schlagzeile würden Sie gerne heute in einem Jahr lesen?
„Der Impfstoff für Corona ist endlich da!“